Attisch-rotfigurige Lekythos

Inv. 35 (1954 aus Slg. von Grancy erworben)

Höhe: 29,2 cm; Durchmesser der Schulter: 9,5 cm

Erhaltungszustand: Aus vielen Fragmenten nahezu vollständig zusammengesetzt.

Einordnung: Athen, rotfigurig, um 460 v.Chr.

Als Lékythos (Pl. Lekythen) bezeichnen wir ein Salb- und Ölgefäß mit einer geschlossenen Form, die sich zum kontrollierten Ausgießen kostbarer Flüssigkeiten eignet.

Unser Beispielstück, eine Zylinderlekythos, zeichnet sich durch einen kompakten, scheibenförmigen Fuß aus, der dem Gefäß Standsicherheit gibt. Der halbrunde untere Gefäßansatz geht in einen schlanken, zylindrischen Körper über, der von einer kantig abgesetzten Schulter begrenzt wird. Das Gefäß erfährt eine starke Verjüngung zum schmalen Hals hin, der wiederum durch einen leicht plastischen Halsring begrenzt ist. Daran schließt sich die kelchförmige Mündung des Gefäßes. Ein nach oben geschwungener, schlaufenartiger Henkel führt von der Schulter zum Hals (Abb. 2).

Im Innern der Mündung befindet sich eine Art Einwölbung, die es der Flüssigkeit erlaubte, sich bei vorsichtiger Handhabung vor der Lippe zu sammeln, um erst dann ausgeschüttet zu werden. So wurde die Portionierung erleichtert. Außerdem ergab sich aus dem großzügigen Mündungsrand die Möglichkeit, auch noch die letzten Reste, die beim Leeren des Gefäßes die Lippe benetzten, zu nutzen. Die Form wurde also in einer Weise konzipiert, dass der Inhalt durch den engen Hals und die spezielle Mündung gezügelt ausgegossen werden konnte.

Die Gefäßform der Lekythos mit Standfuß und Henkel geht bis in das 6. Jahrhundert zurück. Sie taucht erstmals in Korinth und dann wenig später auch in Athen auf, wobei sie anfangs kugelig und eher beutelförmig war (Deianeira-Lekythos). Mit der Zeit wurde der Typus immer schlanker und der Gefäßkörper höher und zylindrischer, bis er im 5. Jahrhundert die gängige Form der Zylinderlekythos erhielt. Parallel dazu existierte auch die Form der Bauchlekythos. Sie hat, in Anlehnung an die älteren Exemplare, eine eher runde Form mit breiter Standfläche, die direkt an den Gefäßkörper angesetzt ist.

Lekythen wurden in der Antike vielfältig eingesetzt, zum Beispiel im kosmetischen Bereich, als Toilettengefäße der Frau. Männer nutzten sie eher im sportlichen Bereich. Sie reinigten sich nach körperlicher Anstrengung mit dem darin enthaltenen Öl und einer Art Spatel (Strigilis). Auch im Grabkult wurden die Gefäße zur Salbung oder als Grabbeigabe eingesetzt (vgl. weißgrundige Lekythen).

Auf unserem Gefäß sind ein Hund und eine Frau zu sehen (Abb. 3). Die Frau steht in zurückgelehnter Haltung, den Kopf nach hinten gelegt und den Blick gen Himmel gerichtet. Ihr rechter Arm ist nach hinten geworfen, während der linke am Körper herabhängt und zwei Speere mit der Spitze nach unten hält. Die Frau trägt Stiefel, die bis zur Mitte ihrer Unterschenkel reichen und am Schaft umgekrempelt sind. Gewandet ist sie in einen kurzen ärmellosen Chiton, der an der Hüfte gegürtet ist und unter dessen Stoff sich ihre Brüste abzeichnen. Sie trägt eine Kopfbedeckung mit seitlichen, langen Laschen und einer Art Fellverzierung oder -innenfutter.
Rechts von ihr ist ein sitzender Hund dargestellt. Er hat eine spitze Schnauze, nach hinten gerichtete Ohren und eine lange Rute. Eine rote Leine führt von seinem Halsband zum Gürtel der Frau. Links neben den beiden steht ein Baum mit wenig Geäst.

Aufgrund der kurzen sportlichen Kleidung und des Hundes ist die Frau als Jägerin zu identifizieren. Eine Frau im Jagdkontext wird in der Antike meist als Artemis gedeutet, da diese unter anderem als Göttin der Jagd und des Waldes bekannt war. In diesem Fall fehlt jedoch der für die Göttin typische Bogen. Dies allein ist zwar noch kein Indiz, um eine Deutung als Artemis zu verwerfen, doch lässt sich diese Art der Darstellung besser mit dem Mythos über die Jägerin Prokris vereinen.

Der Sage nach hatte Kephalos die Treue seiner Frau Prokris testen wollen. Er versuchte sie in fremder Gestalt zu verführen und als er sie mit Schmuck bezirzte, gab Prokris dem Werben nach. Von dieser Tat und den Vorwürfen ihres Mannes beschämt, floh sie, wahrscheinlich nach Kreta zu König Minos. Als sie wieder zu Kephalos zurückkehren wollte, bekam sie entweder von ihm oder von der Göttin Artemis - die antiken Quellen geben hier unterschiedliche Informationen - einen magischen, unentrinnbaren Speer und den Jagdhund Lailaps geschenkt, die sie wiederum an ihren Mann weitergab, um ihn zu besänftigen. Die Ehe der beiden nahm danach jedoch keinen ruhigen Verlauf, da Prokris ihrem Mann nun ebenfalls misstraute und ihm auf der Jagd nachspionierte. Als sie sich durch ein Geräusch verriet, dachte er ein Wild zu sehen und tötete seine Frau tragischerweise mit dem magischen Speer, den sie ihm selbst zuvor zum Geschenk gemacht hatte.

Auf diesen Mythos deuten die Speere und der Hund als Attribute hin. Es können spezifisch Lailaps und der magische Speer dargestellt sein oder aber auch eine normale Ausrüstung, die nur ihre Position als Jägerin verdeutlichen soll. Außerdem reihen sich die zornige, dynamische Haltung der Frau sowie die Tatsache, dass der Hund nicht jagdbezogen gezeigt wird, sondern in angespannter Sitzhaltung neben der Herrin, in die Auslegung ein. Seine Ohren sind gesenkt, wie um Aufmerksamkeit für den Schmerz und die Wut der Herrin zu zeigen. Konkret könnte die Situation des Belauschens dargestellt sein. Zu diesem Moment würde der Baum passen, neben dem die Jägerin steht, um vielleicht Kephalos hinterher zu spähen, der jedoch nicht wiedergegeben ist. Ihre Pose zeugt von starken Emotionen. Gemeint ist wahrscheinlich die Eifersucht, die sie beim Anblick ihres Mannes erfasst.

Abschließend stellt sich die Frage, warum eine Szene, in der es um Betrug und Eifersucht geht, auf einem Gefäß abgebildet wurde. Kaum denkbar ist, dass jemand durch ein solches Gefäß, als Geschenk an eine Frau, seine Missgunst ausdrücken wollte. Vermutlich hat das tragische Ende der sich trotz aller Wirren doch innig Liebenden den Stoff bildwürdig gemacht. Es ist jedoch schwierig Aussagen dazu zu treffen, da derzeit keine andere gesicherte Prokrisdarstellung vorhanden ist und es somit an verlässlichem Vergleichsmaterial mangelt.

Literatur

E. Böhr, CVA Mainz Universität (2) Tafel 16, 1−3 Beilage 7,1 (mit der älteren Literatur). - Zur Form: M.G. Kanowsky, Containers of Classical Greece. A Handbook of Shapes (St. Lucia 1984) 95−99; S. Weber, in: K. Junker (Hrsg.), Aus Mythos und Lebenswelt. Griechische Vasen aus der Sammlung der Universität Mainz (Worms 1999) 47; T. Schreiber, Athenian Vase Construction (Malibu 1999) 171−185. - Zur Darstellung: LIMC VI (1994) 529f. Nr. 1 s.v. Prokris (E. Simantoni-Bournia).

Lisa Heinz