Attisch-spätgeometrische Hydria

Inv. 46 (aus der Sammlung von Grancy; Fundort: Vougliagmeni bei Athen)

Höhe: 38,5 cm

Erhaltungszustand: intakt; kleine ergänzte Fehlstelle an der Mündung

Einordnung: Attika, spätgeometrisch, 720-710 v. Chr.

Ein Gefäß, das in keinem Haushalt der Antike fehlen durfte, ist die Hydria. Schon die Bezeichnung Hydria (hydor "Wasser") deutet darauf hin, dass es sich um einen Behälter für Wasser handelt. Der Name ist ab dem 6. Jahrhundert v.Chr. belegt, und auch die Verwendung als Gefäß zum Transport und zur Aufbewahrung von Wasser ist durch antike Quellen gesichert. Die Hydria ähnelt einer Kanne mit einem vertikalen Henkel, an dem man das Gefäß zum Ausgießen des Inhalts halten konnte. Zusätzlich verfügt die Hydria aber auch über zwei Horizontalhenkel, die zum Anheben des schwer gefüllten Gefäßes dienten.

Die ältesten erhaltenen derartigen Gefäße stammen aus der Bronzezeit. Der kanonische Typus, auch Schulterhydria genannt, bildet sich im 6. Jahrhundert v.Chr. heraus (Abb. 1). Die Schulterhydria hat einen streng gegliederten Aufbau: Bauch, Schulter und Hals des Gefäßes sind klar voneinander abgesetzt. Die Höhe variiert zwischen 30 und 50 cm. Dieser Typ war vor allem in der Zeit vom letzten Viertel des 6. bis zum zweiten Viertel des 5. Jahrhunderts im Gebrauch.

Daneben existiert eine weitere Variante, die heute als kalpís bezeichnet wird, und ab dem Ende des 6. bis in das 4. Jahrhundert hergestellt wurde. Die Kalpis (Plural Kalpiden) hat einen kugeligen Gefäßkörper und eine flacher ansteigende Schulter (Abb. 2). Hals, Schulter und Bauch gehen dabei gleitend ineinander über. Kalpiden sind gewöhnlich etwas kleiner als Schulterhydrien und in der Regel etwa 25 bis 40 cm groß. Während bei der Schulterhydria der vertikale Henkel meist von der Schulter bis zur Mündung reicht, wird er bei den Kalpiden an Schulter und Hals angesetzt.

Es gibt zahlreiche Vasenbilder, die Hydrien im Gebrauch zeigen und darüber Auskunft geben, wie sie gehandhabt wurden. Meist handelt es sich um Szenen an Brunnenhäusern, die Mädchen oder Frauen beim Auffüllen der Gefäße an Wasserspeiern zeigen, denn das Wasserholen gehörte zu den täglichen Aufgaben der Frauen (Abb. 1). Die leere Hydria konnte am vertikalen Henkel gehalten werden und wurde auf dem Kopf oder auf der Schulter getragen. Auf den Kopf wurde die schwere, mit Wasser gefühlte Hydria gestellt, indem man sie zuerst an den horizontalen Henkeln anhob und auf ein Knie stellte, um die Henkel von unten zu umgreifen. So konnte sie hochgehoben und auf den Kopf gestellt werden. Eine Art Kissen oder Ring (tyle) diente als Unterlage. Mit Sicherheit wurden Hydrien auch zur Aufbewahrung von Wasser im Haus benutzt. Bei den meisten dieser Gefäße wird es sich um einfache, unverzierte Gefäße gehandelt haben. Daneben gab es aber auch kostbare Hydrien aus Metall. Bemalten Tonhydrien (Abb. 1-3. 5) wurden sicher nicht zum Wasserholen am Brunnen benutzt, da sie dafür zu zerbrechlich sind.

In ihrer Funktion als Wasserbehälter wurden Hydrien auch im Kult verwendet, denn Wasser wurde für viele rituelle Handlungen benötigt. In seiner reinigenden Eigenschaft war Wasser ein wesentlicher Bestandteil von Reinigungsriten. Beispielsweise wurden vor dem Tieropfer der Altar, das Opfertier und die Teilnehmer mit Wasser besprengt. Außerdem mussten die Opfertiere getränkt werden. Viele Rituale begannen daher mit einer Prozession, in der Wasser von einer Quelle zum Altar getragen wurde. Eine wichtige Rolle spielte Wasser und damit auch die Hydria im öffentlichen und privaten Totenkult. Wasser wurde für die Waschung des Leichnams, aber auch für Spendengüsse (Libationen) am Grab verwendet. Daneben wurden Hydrien als Trinkwasserbehälter den Verstorbenen mit ins Grab gegeben, denn wie in anderen antiken Kulturen war es auch in Athen üblich, den Verstorbenen auf seinem Weg in die Unterwelt mit Gegenständen sowie Speisen und Getränken auszustatten. In einigen Fällen dienten Hydrien auch als Behältnis für den Leichenbrand.

Auch die spätgeometrische Hydria in der Universitätssammlung ist in einem Grab unweit von Athen gefunden worden (Abb. 3). Ihr Erhaltungszustand ist daher sehr gut, nur auf der Rückseite befindet sich ein kleines Loch. An der Mündung ist eine kleine Fehlstelle in Gips ergänzt. Die Hydria in unserer Sammlung unterscheidet sich, da es sich um eine frühes Exemplar handelt, in ihrem Aufbau geringfügig von den oben beschriebenen Varianten. Das Gefäß hat einen eiförmigen Körper, der auf einem niedrigen Fuß ruht. Der hohe Hals ist klar von der Schulter abgesetzt. Die horizontalen Henkel befinden sich an der breitesten Stelle des Gefäßkörpers. Der Vertikalhenkel setzt an der Schulter an und reicht nur bis kurz über die Mitte des Halses. Der Glanzton, mit dem der Dekor auf den ockerfarbenen Ton gemalt ist, ist teilweise abgeblättert, doch sind die geometrischen Ornamente zumeist noch sehr gut zu erkennen. Ein aus geometrischen Elementen wie beispielsweise Mäandern bestehendes Dekorationssystem ist typisch für die von etwa 900 bis 700 v.Chr. hergestellte Keramik. Deshalb wird diese Periode auch als geometrische Zeit bezeichnet. Das Gefäß ist mit mehreren umlaufenden Reifen, Zickzacklinien und Rautenbändern geschmückt. Zwischen den Horizontalhenkeln befindet sich auf der Vorderseite und auf der Rückseite des Gefäßes jeweils ein großes Rautengittermotiv, das von vertikalen Schmuckbändern eingefasst ist. Die Rautenfelder sind mit Schachbrettmustern gefüllt. Auch die Henkel sind mit Streifen geschmückt.

Auf dem Hals der Hydria sind auf einem umlaufenden Fries dreizehn stilisierte Frauenfiguren mit langen Röcken dargestellt (Abb. 4). Der Oberkörper der Frauen ist in Form eines Dreiecks wiedergegeben, die Haare sind nur angedeutet. Eine solche Stilisierung der menschlichen Figuren ist typisch für den geometrischen Stil. Die Kleidung der Frauen ist mit Gittermustern verziert. Sie greifen sich an den Händen zum Reigentanz und halten dabei stilisierte Zweige, die zur Erde herunter hängen. Reigentänze wurden von jungen Männern und Frauen an Festen zu Ehren der Götter oder aber auch bei Totenfeierlichkeiten aufgeführt. Zahlreiche Darstellungen der spätgeometrischen Zeit zeigen Reigentänze in Verbindung mit Aufbahrungsszenen (prothesis) und Leichenzügen (ekphora).

Als ein zusätzliches Dekorationselement sind am Mündungsrand, um den Halsansatz und auf dem Vertikalhenkel plastische Schlangen angebracht, die schwarz bemalt sind (Abb. 5). Auch sie sind stilisiert dargestellt, die Köpfe und Schwänze sind nicht ausgearbeitet. Solche plastischen Schlangen finden sich auf vielen attischen Amphoren und Hydrien, die in Gräbern der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v.Chr. gefunden wurden. Als erdverbundene Tiere hatten Schlangen in der Antike eine Mittlerfunktion zwischen der Unterwelt und der Welt der Lebenden und erscheinen daher oft in Szenen aus dem Totenkult. Anfangs sind die Schlangen noch detailliert wiedergegeben, auf späteren Gefäßen ähneln sie dagegen eher einem umlaufenden Wulst. Während die Reigentanzdarstellung auf dem Hals noch nicht direkt auf die Verwendung im Totenkult hinweist, machen die aufgesetzten Schlangen deutlich, dass die Hydria der Mainzer Sammlung von vornherein nicht zum Gebrauch bestimmt war, sondern als Grabbeigabe hergestellt wurde.

Literatur
R. Hampe - E. Simon, CVA Mainz
(1) Taf. 5 ; Chr. Schmitt in: K. Junker (Hrsg.), Aus Mythos und Lebenswelt. Griechische Vasen aus der Sammlung der Universität Mainz (Worms 1999) 23-27 Abb. 2. 6. - Zur Gefäßform: E. Diehl, Die Hydria. Formgeschichte und Verwendung im Kult des Altertums (Mainz 1964); T. Schreiber, Athenian Vase Construction: A Potter's Analysis (Malibu 1999) 117-123; E. Trinkl, Sacrifical and Profane Use of Greek Hydrai, in: A. Tsingarida (Hrsg.), Shapes and Uses of Greek Vases (7th - 4th Centuries B.C.) Proceedings of the Symposium held at the Université libre de Bruxelles, 27-29 April 2006 (Brüssel 2009) 153-171. - Zu den plastischen Schlagen: E. Grabow, Schlangenbilder in der griechischen schwarzfigurigen Vasenkunst (Münster 1998) 7-15.

Swetlana Pirch