Siana-Schale

Attisch-schwarzfigurige Trinkschale

Inv. 72 (aus altem Privatbesitz, Fundort: Thespiai)
Höhe: 14, 2 cm; Durchmesser: 27 cm, Gewicht: ca. 700 g, nimmt bis zum Knick ca. 2,4 l auf
Erhaltungszustand: aus Bruchstücken zusammengesetzt, am Henkel Randpartie ergänzt, Teil der Bemalung abgeblättert
Einordnung: Athen, schwarzfigurig, ca. 560 v. Chr.

Schalen gehören zu den ältesten und beliebtesten Trinkgefäßen der Antike. Der griechische Name für Schale Kylix konnte auch als Oberbegriff für andere zweihenklige Trinkgefäße verwendet werden. In der archaischen Zeit bildeten sich zwei Haupttypen, Knickwandschalen und Einheitsschalen.

Die hier behandelten Knickwandschalen ruhen typischerweise auf einem Fuß, der mit der Zeit immer höher wurde, wodurch die Schalen graziler und feiner wirken. Vom Fuß geht ein großes Becken ab. Der untere und größere Teil des Beckens ist stets konvex gewölbt, am ausgedehntesten Teil dieser Wölbung sind zwei Henkel angelegt. Darüber folgt ein um das ganze Becken umlaufender Knick, an den sich der Rand anschließt. Dieser läuft meist steil nach außen, ist teilweise auch leicht konkav gewölbt.

Was für uns heute ungewohnt erscheint, war damals selbstverständlich: Bereits seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. hatten Trinkgefäße, wie die Schale, zwei Henkel. Die Tradition der Zweihenkligkeit hatte jedoch kaum praktischen Sinn, da man die Schale beim Trinken nur mit einer Hand anhebte. Der zweite Henkel diente der Symmetrie.

Trotz der im Wesentlichen gleichbleibenden Form einer Trinkschale sind bestimmte Veränderungen von Größe und Proportionen erkennbar. So entwickelt sich zum Beispiel die Tendenz, die Henkel waagerecht oder in einem Bogen nach oben laufen zu lassen. Auch der Durchmesser des Gefäßes schwankte im Laufe der Zeit, wobei der weiteste in der Regel am Lippenrand zu messen und immer größer als die Tiefe des Beckens ist.

Die erste Knickwandschale im strengen Sinne entstand in Athen um 740 v. Chr., aber schon mykenische Trinkgefäße um 1400 waren gegliedert. Beeinflusst durch die attische Knickwandschale, entstand im 7. Jahrhundert in Korinth ein eigener Schalentyp. Dessen Kanten sind scharf ausgearbeitet und wirken dadurch metallisch. Dieser Effekt war erwünscht, um echte metallene Schalen zu imitieren, welche wertvoller und somit ein Statussymbol als Keramik waren. Die präzise Formgebung der korinthischen Schalen war wiederum Vorbild für die ionischen Schalen des 7. Jahrhunderts und die attischen Komastenschalen, die seit 600 geschaffen wurden.

Anfangs waren die attischen Komastenschalen flächig schwarz bemalt, aber bereits seit etwa 590 wurden auf dem Becken tanzende Zecher, sogenannte Komasten, abgebildet. Der Fuß ist hoch und die Henkel sind gerade angesetzt. Über diesen folgt der leicht konkave, schmale Knickrand, welcher ornamental, eventuell auch mit einem zweiten Figurenfries, dekoriert ist.

Mit dem Ende der Komastenschalen um 560 kam der Typus der Siana-Schale auf (Abb. 1-6). Diese sind nach ihrem häufigsten Fundort, einem Friedhof bei Siana auf Rhodos, benannt. Der Fuß ist noch höher und macht fast die Hälfte des gesamten Gefäßes aus. Henkel und Rand sind etwas größer als bisher. Der Unterteil des Beckens und der Fuß sind mit schwarzem Glanzton bemalt. Dadurch rückt die Bildzone, die sich auch über den Rand erstreckt, nach oben und ist im Stehen gut lesbar. Dieses Bemalungsschema, das auch auf der Schale Inv. 89 (Abb. 1) zu sehen ist, ist bei Siana-Schalen weit verbreitet, doch gibt es auch Ausnahmen, wie das im Folgenden näher behandelte Stück zeigt.

Der typische hohe Fuß der Siana-Schale (Inv. 72) in der Sammlung der Universität Mainz hat eine große Standfläche, die sehr flach und durch einen feinen Wulst gegliedert ist (Abb. 2). Das Becken setzt sich scharf in einem nahezu rechten Winkel vom Fuß ab. Es bildet die Form einer halben Ellipse. Die beiden runden Henkel setzen, wie bei allen Knickwandschalen, an der breitesten Stelle des Beckens an und sind leicht nach oben gewölbt. Darüber folgen ein schmaler Streifen, der leicht nach innen läuft, und der Knick. Der Rand der Schale macht in der Höhe ungefähr ein Drittel des Beckens aus, geht gerade nach oben und ist konkav gewölbt.

Der Fuß und der untere Teil des Beckens sind schwarz bemalt. Einige tongrundig belassene Partien gliedern den Fuß optisch. Die Bildzone wird durch einen schmalen unbemalten Streifen und eine feine schwarze Linie begrenzt. Der Rand ist, bis auf die Lippe, schwarz. Dies ist eher ungewöhnlich - meist erstrecken sich die Darstellungen auf Siana-Schalen bis auf den Rand - und erinnert an eine Komastenschale. Weil aber der untere Teil des Beckens schwarz ist und sie später datiert wird als übliche Komastenschalen, kann man sie als Siana-Schale identifizieren.

Zu den Darstellungen auf Vorder-, Rück- und Innenseite treten noch zwei Mantelmänner unter den schwarzen Henkeln (Abb. 3); beide schauen zu derselben Seite und zeigen sich so dieser Szene zugehörig. Sie fungieren als Füllfiguren und als Verknüpfung von Vorder- und Rückseite, denn ein Bein überkreuzt sich jeweils mit einem Bein der Figuren auf der Rückseite. Möglicherweise sollten sie auch als sogenannte Zuschauerfiguren den realen Betrachter repräsentierten, einen Bürger der Oberschicht. Ein langer Mantel, Bart und auch ein Gehstock waren häufig seine Attribute auf Vasendarstellungen.
Das Bild im Tondo (Abb. 4), in der Innenseite der Schale, zeigt einen nackten Mann, der sich durch seine geduckte Haltung dem Bildrund anpasst. Attribute wie ein böotischer Schild, ein Speer und ein korinthischer Helm bilden eine statusträchtige Hoplitenrüstung. Die Darstellung als ganze meint wohl einen sogenannten Waffenlauf, eine Disziplin sportlicher Wettkämpfe.

Auf der Vorderseite (Abb. 5) sind acht Figuren dargestellt. Zwei von ihnen sind durch ihre ehemals weiße Haut als Frauen erkennbar. Sie tragen ein kurzes, ursprünglich rotes Gewand und Haarbänder. Fünf der sechs dargestellten nackten Männer sind bärtig. Eine Frau und ein Mann halten ein Trinkhorn, ein sogenanntes Rhython, in der Hand. Dieses Gefäß wurde bei Symposien oder Riten verwandt. Die Figuren heben Arme und Beine: Sie führen einen Komastentanz aus. Ein Komos bezeichnet einen ausgelassenen Umzug innerhalb einer rituellen Feier, der häufig in Bezug auf den Gott Dionysos durchgeführt wurde.
Ein mächtiger, überlebensgroßer Eber befindet sich im Zentrum der Rückseite (Abb. 6). Es steckt ihm ein Speer im Nacken und er wird von drei Hunden angegriffen. Von vorne laufen drei Jäger mit dreizackigen Spießen auf den Eber zu. Zwei weitere treten von hinten mit Speeren heran. Aus der Gruppe der einheitlich gestalteten Jäger tritt einer als Hauptangreifer heraus. Er steht unmittelbar vor dem Eber und trägt, im Gegensatz zu den anderen, ein Mäntelchen um die Brust. Zudem sind kleine Tupfen vor ihn gemalt. Diese sollen möglicherweise eine Bildinschrift imitieren und den Jäger somit bezeichnen. Die Hervorhebung eines einzelnen Jägers lässt vermuten, dass eine bestimmte Person gemeint ist, und legt eine explizite Deutung der gesamten Komposition nahe. Eine der beliebtesten Darstellungen der archaischen Zeit war der weit verbreitete Mythos der sogenannten kalydonischen Jagd. Dieser Sage nach herrschte in Kalydon der wohlhabende König Oineus. Er soll sehr fruchtbares Land besessen haben und - durch Dionysos" Gunst - der erste Rebz&uu
ml;chter gewesen sein. Im Kult hat er angeblich die Jagdgöttin und Göttin der Tiere Artemis vernachlässigt. Diese schickte als Rache einen mächtigen Eber, der Oineus" Länder verwüstete. Oineus rief Jäger des ganzen Landes zur Jagd gegen das Untier auf. Schließlich gelang es seinem Sohn Meleager den Eber zu erlegen.

Auch wenn die Darstellungsschemata unterschiedlich sind, gibt es doch einige feststehende Elemente: der überlebensgroße Eber in der Mitte zwischen Jägern und Hunden, die ihn angreifen, und Inschriften, meist bei Meleager. Häufig wird auch eine Figur abgebildet, die jedoch bei dieser Siana-Schale fehlt: die Jägerin Atalante. Ihr Fehlen und die nicht entzifferbare Inschrift sind Tatsachen, die gegen die Deutung des Motivs als kalydonische Jagd sprechen. Zudem wäre es sehr ungewöhnlich, dass mehrere Darstellungen auf einer Vase zusammenhangslos erscheinen. Könnte man zwischen Eberjagd und Komastenszene noch die fern liegende Verbindung über Dionysos schließen, so würde dennoch die Innenseite unerklärt bleiben. Was also ist der rote Faden, der diese drei Bilder vereint?

Aus heutiger Sicht nicht sofort erkennbar, gibt es tatsächlich eine Gemeinsamkeit: Alle drei Darstellungen zeigen die Privilegien der archaischen Aristokraten. Diese hatten genug Geld, um nicht arbeiten zu müssen, und dadurch viel freie Zeit zur Verfügung, in der der Körper, zum Beispiel durch den Waffenlauf, trainiert wurde. Schönheitsideal der damaligen männlichen Bevölkerung war ein jugendlicher, muskulöser Körper. Dies erklärt auch, weshalb die männlichen Figuren nackt sind, was nicht der Realität entsprach, sondern den Körper verherrlichte und zeigte, welcher gesellschaftlichen Schicht der Inhaber der Vase, der sich durch die Abbildungen repräsentierte und identifizierte, angehörte.

Eine weitere sportliche Übung war die Jagd. Diese wurde als Spaß, Mutprobe und Nervenkitzel angesehen und diente zur Vorbereitung auf den Kampf. Man kann die Darstellungen auf der Schale demnach insgesamt als Visualisierung des aristokratischen Lebensideals verstehen. Auch der auffällig hervorgehobene Jäger ist dann kein Widerspruch. Es ist sogar möglich, dass diese Jagd zwar auch den allgemeinen sportlichen Zeitvertreib benennt, aber dass ebenso auf einer weiteren Ebene gezeigt werden sollte, dass Mythos und Kult ein weiterer wichtiger Bestandteil des damaligen aristokratischen Lebens waren.

Literatur:
R. Hampe - E. Simon, CVA Universität Mainz (1) Taf. 43; S. Fähndrich, in: K. Junker (Hrsg.), Aus Mythos und Lebenswelt. Griechische Vasen aus der Sammlung der Universität Mainz, (1999) 28 -33. - Zur Formentwicklung: K. Vierneisel - Bert Kaeser (Hrsg.), Kunst der Schale. Kultur des Trinkens (1990) 41-49.

Julia Heldt