Anthropologie der griechischen Kunst

Projektleitung: Prof. Dr. Klaus Junker

Der frühere Kernbereich des Faches, die kunst- und kulturhistorische Analyse von Plastik, Malerei und Architektur, befindet sich als Forschungsfeld etwa seit den siebziger Jahren in der Defensive. Damals trat die Frage nach konkreten Lebenszusammenhängen in den Vordergrund, und seither werden sozial-, politik-, religionsgeschichtliche Fragen und verwandte Aufgaben mit großer Intensität verfolgt, eine Entwicklung, die sich bis heute unverändert fortgesetzt hat. Hauptgrund für den Rückgang des Interesses an der Kunstentwicklung ist vor allem die Tatsache, dass die früher selbstverständliche Hochschätzung der klassischen Kunst im Zuge eines grundlegenden Wandels kultureller und ästhetischer Vorlieben weitgehend Geschichte ist. So wurde die Archäologie der Griechen und Römer, auch wenn sie an den Universitäten weiterhin wesentlich stärker vertreten ist als zum Beispiel Ägyptologie oder Vorderasiatische Archäologie, mehr und mehr zu einer von vielen Disziplinen, die sich mit der materiellen Kultur lange vergangener Epochen beschäftigen. Es ist dabei kein ganz stiller Rückzug, sondern einer, der begleitet wird von Äußerungen der Befriedigung darüber, dass eine jahrhundertelange ‚humanistische‘ Anmaßung nun ein Ende hat. Der Philosoph Henning Ritter etwa registriert als Beobachter der sich wandelnden Wertschätzung der griechischen und römischen Kunst sogar »Invektiven, ja Haßtiraden auf das klassische Ideal«.

Es war deshalb nur konsequent, wenn im Jahr 1999 eine Tagung die „Posthumanistische Klassische Archäologie“ zum Thema gemacht hat. Es ist aber auch bezeichnend, wenn die Tagung fast ohne Resonanz geblieben ist: Es ist bisher für das Fach insgesamt und für die Auseinandersetzung mit der griechischen Kunst im Besonderen nichts an die Stelle des verabschiedeten humanistischen Paradigmas getreten. Die Forschung schließt sich, soweit sie nicht – ihrem Selbstverständnis nach – neutrale »Sachforschung« im Rahmen von »Mittelmeerarchäologie« betreibt, an verschiedene Diskurse an, die mal mehr, mal weniger stark von gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart angeregt sind (z.B. Gender, Migration, Kulturkontakt).

So legitim und fruchtbar diese Forschungszweige im Einzelnen sind, wird doch viel verschenkt, wenn man darauf verzichtet, das Spezifische und auch Außerordentliche, wodurch sich die griechische Kunst auszeichnet, nachdrücklich in den Blick zu nehmen. Als Erläuterung kann genügen, auf die ungewöhnliche starke Entwicklungsdynamik und die damit verbundene Motivvielfalt der Bildkunst sowie auf die Schaffung einer nachahmungstreuen Art der Darstellung hinzuweisen, wodurch sich die griechische (und römische) Kunst von allen Entwicklungen in den früheren Kulturen in Europa und darüber hinaus absetzt.

An die Stelle der humanistischen Perspektive möchte ich nun eine setzen, die konsequent die gleichsam humane Seite der griechischen Kunst in den Blick nimmt und die ästhetische Seite der Artefakte, die Gestaltung der Form, in gleichem Maß beachtet wie ihre Wirksamkeit im sozialen Raum. Mein Ansatz besteht darin, die Tatsache einer außerordentlich starken Neuerungssucht und -kapazität zu kontrastieren mit einer zwar qualitativen, dabei aber fast naturwissenschaftlich systematischen Betrachtungsweise: Ich frage durchgehend nach den Impulsen und den Wirkungspotentialen, die mit den herausragenden Phänomenen der Bildkunst in der griechischen Welt in Verbindung gebracht werden können. Die Betrachtung konzentriert sich auf potentiell kontingente Felder der Lebenspraxis, auf denen diese Impulse besonders deutlich hervortreten. Dazu gehören etwa die Etablierung einer Bildsprache als Mittel der Kommunikation im frühen Griechenland, das schwankende Verhältnis des Individuums zum Kollektiv in der archaischen und klassischen Zeit oder die Entgrenzung der Weltwahrnehmung in der hellenistischen Epoche.

Als Werkzeug der Beschreibung eignet sich dafür eine Art anthropologische Matrix, die in freier Anlehnung an ein ethnologisches Grundlagenwerk, Ruth Benedicts Patterns of Culture, entworfen ist. Als ferner Anreger wirkt zudem natürlich Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte, in der die Bildende Kunst allerdings eine unbedeutende Rolle spielt. Methodologisch spielt der Vergleich mit anderen Kulturen, und zwar auch mit rezenten Kontexten, eine wesentliche Rolle, um durch die Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden das Spezifische der griechischen Kunst besser erfassen zu können.

K. Junker, Primitive griechische Kunst und Nachahmung, in: K. Junker – A. Stähli (Hrsg.), Original und Kopie. Formen und Konzepte der Nachahmung in der antiken Kunst (Wiesbaden 2008) 253–267

K. Junker, Bildlichkeit im vorhomerischen Griechenland, in: Chr. Pare (Hrsg.), Kunst und Kommunikation: Zentralisierungsprozesse in Gesellschaften des europäischen Barbarikums im 1. Jahrtausend v. Chr. (Mainz 2012) 1–15

K. Junker, Opferrinnenzeremonie und Potlatch. Ein Testfall der interkulturellen Analyse, Archäologischer Anzeiger 2018/1, 231–254